Einmal mit einem missplatzierten Like oder einem unbedachten Hashtag falsch abgebogen und schon wird TikTok zu einem großen Marktplatz der Hobbypsychologen und -therapeutinnen. Fleißig werden Diagnosen feilgeboten, von Borderline und Burnout (Selbstdiagnose) bis Narzissmus und Bindungsangst (Fremddiagnose). Die Symptomatik wird oft anhand kurzer Rollenspiele erklärt – die humorvolle Pointe bleibt selten aus – und mit passendem Soundtrack und Choreografie hinterlegt.
Hoch im Kurs der therapieverwandten Themen, steht auch die Bindungstheorie (#attachmenttheory). In diversen Videos wird erklärt, wie es ist, eine Person mit sicherem Bindungsverhalten zu daten, welche Gedanken auf einen vermeidenden Bindungstyp hinweisen und welche auf einen unsicher-ambivalenten. Vier Kategorien gibt es: den sicheren, unsicher-vermeidenden, unsicher-ambivalenten und desorganisierten Bindungstyp. Bei so klar vereinfachenden Kategorien wird man zu Recht schnell stutzig. Lassen sich Menschen so grob in Typen einteilen?
Ursprung der Bindungstheorie
„Natürlich ist das eine Vereinfachung und spiegelt nicht die Komplexität der Wirklichkeit wider“, sagt Entwicklungspsychologin Quynh Trinh Nguyen. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit beschäftigte sie sich intensiv mit Bindungstheorie. Sie wollte herausfinden, wie Eltern-Kind-Interaktionen die Musikalität von Kindern beeinflusst. „In erster Linie geht es darum, mithilfe der Kategorisierung die schwierigeren Fälle zu diagnostizieren“, sagt die Wissenschaftlerin.
Die Theorie dazu hat ursprünglich der britische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby Mitte des vergangenen Jahrhunderts ersonnen. Ihr zugrunde liegt die Annahme, dass Menschen evolutionsbedingt schon mit einem Repertoire an Verhaltensweisen geboren werden, die Nähe zu Bezugspersonen sicherstellen sollen, um die Überlebenschancen zu steigern. Die ersten sechs Monate bis hin zum ersten Lebensjahr eines Kindes sollen dabei die prägendste Zeitspanne sein, in der sich bestimmte Handlungsmuster, um diese Nähe zu erlangen, herausbilden, ausgetestet und modifiziert werden. Dabei kann ein Kind in verschiedenen Situationen und mit verschiedenen Personen unterschiedliche Handlungsmuster entwickeln. Zum Einsatz kommen diese Muster insbesondere in Momenten der Unsicherheit. Im Zuge der Kindheit und Jugend verfestigen sich diese Handlungsschemata und werden auch im Erwachsenenalter weiterhin abgerufen. Hier sei allerdings gesagt: viele Faktoren wie Situation, Umgebung oder das Gegenüber können beeinflussen, welche Handlungsmuster abgerufen werden. Trotzdem legen Langzeitstudien nahe, dass das Bindungsverhalten, das man mit seinen ersten und nächsten Bezugspersonen pflegte, oft auch im Erwachsenenalter abgerufen wird.
Das Experiment
Festgemacht wurden die verschiedenen Bindungstypen an einer Untersuchungskonstellation, in der Kinder im Alter von mindestens einem Jahr in eine „Fremde Situation“ versetzt wurden. So befinden sich die Kinder etwa mit Spielzeug, einer Beobachterin und einer nahen Bezugsperson im selben Raum. Interessant wird es, wenn die Bezugsperson das Zimmer verlässt. Wie reagiert das Kind?
Jene mit sicherem Bindungstyp bringen ihre Gefühle offen zum Ausdruck, weinen, schreien, lassen sich nicht leicht trösten. Kehrt die Person zurück, suchen sie Körperkontakt, beruhigen sich sehr schnell wieder und widmen sich dann wieder anderen Tätigkeiten, sind offen, erkunden den Raum und treten auch mit fremden Personen in Kontakt. Die Stressregulierung funktioniert über die Nähe zur Bezugsperson.
Der unsicher-vermeidende Typ kennzeichnet sich dadurch, dass er seine Gefühle unterdrückt, kaum zum Ausdruck bringt, vermeidet, sich ablenkt. Gleichzeitig funktioniert die Stressregulierung aber nicht, der Cortisolspiegel bleibt erhöht. Selbiges gilt für den unsicher-ambivalenten Typ. Das Kind zeigt sich sehr emotional, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, wird wütend, lässt sich auch nach der Rückkehr schwer beruhigen. Es scheint hin- und hergerissen zwischen Wut und dem Bedürfnis nach Körpernähe. Die Umwelt lässt das Kind zum größten Teil außer Acht.
Kinder mit desorganisiertem Bindungsverhalten zeigen widersprüchliches Verhalten, teilweise Angstzustände, können sich abwesend zeigen oder durch auffällige Bewegungsmuster auffallen. Gerade dieser Typ lässt sich besonders schwer diagnostizieren und weist oft auf die Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern hin.
Bilanz
Studien in diversen Ländern deuten darauf hin, dass Kinder mehrheitlich in „Fremde-Situation“-Versuchsanordnungen sicheres Bindungsverhalten an den Tag legen. Interessanterweise gibt es kulturelle Unterschiede in der Verteilung der Bindungstypen. In Norddeutschland sei die Gruppe der Unsicher-Vermeidenden relativ gesehen größer, in Japan jene der Sicheren. Aber auch die beiden unsicheren Bindungstypen sagen weder etwas über die Eltern, noch über die Fähigkeit, eine Partnerschaft aufrechtzuerhalten aus. „Der sichere Bindungstyp ist ein westliches moralisches Ideal, das sich sicher hinterfragen lässt. In der Forschung zeigt sich, dass auch die beiden unsicheren Bindungstypen nicht disfunktional sind. Man muss nicht der perfekte Elternteil sein, deshalb gibt es in der Wissenschaft die Bezeichnung ‘good enough parenting’ (zu Deutsch quasi eine befriedigende Elternschaft)“, sagt Nguyen.
Auch Kritik an der Theorie wird immer wieder laut. Zu stark sei die Fokussierung etwa auf die Rolle der Mutter gewesen, weswegen in jüngeren wissenschaftlichen Beiträgen Bezugspersonen aller Art miteingeschlossen werden. Außerdem sei die Theorie nicht kulturell sensibel genug und schaffe es nicht, die Vielfältigkeit von Kindern aus unterschiedlichen Ländern abzubilden (Siehe Heidi Keller: „Mythos Bindungstheorie“). Ebenso wie sie andere soziale Dimensionen wie Geschlecht, Ethnizität, Persönlichkeit, sozioökonomischer Hintergrund außer Acht lasse. Grundsätzlich ist sie allerdings als wissenschaftlich wertvolles Instrument anerkannt und auch ihr Einzug in die sozialen Medien ist nicht weiter verwerflich. Es empfiehlt sich zusätzlich trotzdem weiterführende Lektüre.